Als ich meine erste Familienbegleitung für den Ambulanten Kinder- und Jugendlichen Hospizdienst übernahm, war das so ganz anders, als ich es aus der Sterbebegleitung für Erwachsene kannte: Stefan, ein vierjähriger Junge aus der Ukraine, machte bei meinem ersten Besuch auf mich nicht den Eindruck, dass er lebensbedrohliche onkologische Erkrankung haben könnte. Als er mir die Haustür öffnete, hätte ich nie vermutet, dass er der Patient sei. So ein quicklebendiges und energiegeladenes Kerlchen sollte so krank sein?
Das einzige, das über seinen wahren Zustand vielleicht Auskunft gab, war der beim Toben manchmal unter dem T-Shirt hervor guckende Port, der ihn als Chemotherapiepatienten „verriet“. Mein Auftrag in der Familienbegleitung sollte es sein, dem Jungen ein wenig Deutsch beizubringen. Er war seit etwa einem Jahr in Oldenburg in Behandlung, hatte bisher auf Grund häufiger kurzer Krankenhausaufenthalte und seines durch die Chemo geschwächten Immunsystems keine Kita besucht und somit wenig Kontakt zu Deutsch sprechenden Kindern gehabt.
Nach unserem ersten Treffen war schnell klar, dass ich für meinen Deutsch„unterricht“ Materialien benötigen würde, anhand derer wir uns gemeinsam an das Deutschlernen heranpirschen könnten. Schnell wurde ich beim Ambulanten Hospizdienst in der Haareneschstraße fündig, wo es eine Kiste mit Spielen zu plündern gab, und eine ehrenamtliche Kollegin schenkte mir diverse Lernspiele, die von den Enkeln nicht mehr benötigt wurden. Alle 14 Tage radelte ich fortan 11 km von meinem Wohn- zum Einsatzort und zurück, immer ein paar Spiele, Puzzles, Malutensilien, eine Handpuppe im Gepäck und nahm mit St. am Wohnzimmertisch Platz.
Er begrüßte mich jedes Mal, sich hinter der Haustür beim Öffnen versteckend, mit einem lauten „Buhhh“ und amüsierte sich köstlich, wenn ich mich, wie gewollt, schrecklich erschrak. Das war unser Begrüßungsritual, das sich über zwei Jahre kaum verändert hat. Wohl verändert hat sich in dieser Zeit, dass ich mit Stefan nun auf Deutsch kommunizieren kann, ohne den Google-Translator zu Rate ziehen zu müssen, der uns in den Anfangsbegegnungen über so manches Fragezeichen hinweggeholfen hatte. Für ein halbes Jahr kam auch eine Praktikantin der Stiftung als Tandem mit in die Familie, später eine ehrenamtliche Kollegin, so dass Stefan sehr regelmäßig Deutsch hören und sprechen konnte.
Mit der Zeit ergab es sich, dass auch Stefans Schwestern (ein Jahr jünger bzw. zwei Jahre älter als er) sich bei den Treffen hinzugesellten und wir ein munteres Quartett bildeten, das sich um dem Wohnzimmertisch zusammenfand und miteinander spielte, bastelte oder auch einfach nur mal Quatsch machte. Im Sommer haben wir im Garten Drachen steigen lassen, sind auf dem Trampolin gesprungen oder haben im Sandkasten Überschwemmungen verursacht. Ich selber habe dabei meine noch vorhandene kindliche Freude am Spielen wiederentdeckt und mich nach jedem Besuch zwar durchaus erschöpft, aber mindestens um zehn Jahre verjüngt gefühlt. ;-))
Nach zwei Jahren habe ich mich nun im Mai von Stefan und seiner Familie verabschiedet, aber aus einem ganz anderen Grund als anfangs gedacht: Stefan, jetzt sechs Jahre alt, ist genesen! Was niemand für möglich gehalten hatte, ist geschehen, und so haben wir bei unserem letzten Treffen etwas Besonderes erlebt: Wir haben einen Kofferzirkus zu Besuch gehabt. Bernd Kleyboldt, ein Oldenburger Kleinkünstler, baute sein Zirkuszelt direkt im Wohnzimmer von Stefans Familie auf und stellte uns seinen Mini-Artisten Helmut vor, der in der Manege die schwierigsten Kunststücke mit Bravour meisterte. Genau wie Stefan letztendlich seine lebensbedrohliche Krankheit meisterte und ich meine erste Familienbegleitung.
Christiane Brokmann-Nooren
(Das Foto zeigt Bernd Kleyboldt als Zirkusdirektor während der Vorführung im Wohnzimmer der ukrainischen Familie von Stefan, die nach ihrer Flucht vor dem russischen Angriffskrieg seit Frühjahr 2023 in Oldenburg lebt.)